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Ein naturnaher Fluss?

Schon 1979 wurde der Steckby-Lödderitzer Forst, wo die Elbebiber in den Auenwäldern ihr letztes Rückzugsgebiet gefunden hatten, von der UNESCO zu einem der beiden ersten deutschen Biosphärenreservate ernannt. Inzwischen umfasst das Biosphärenreservat Mittelelbe das Gebiet zwischen Wittenberg und Seehausen in der Altmark.

Sandstrand an einem Fluss
Seichtes Ufer bei Niedrigwasser. (Foto: Ernst Paul Dörfler)

Wenn Junkers-Paddler im Sommer Campinggäste aufnehmen, hören sie häufig einen Satz: „Mensch, ist das schön bei euch.“ Wie auch nicht: Die Gäste haben mit dem Rad das Dessau-Wörlitzer Gartenreich durchquert oder sind auf der Elbe gepaddelt. Sie haben einen Fluss erlebt, der von offenen Auenlandschaften und Wäldern gesäumt wird. Einen Fluss, zu dem Städte gebührenden Abstand halten. Hier eine Gierseilfähre, dort eine Ausflugsgaststätte oder ein Bootshaus, ja, auch mal eine Brücke oder ein kleiner Hafen – ansonsten scheint die Zivilisation weit weg und die Natur ganz nah. Keine Schleusen, selten gepflasterte Ufer. Die Elbe ist ein völlig anderer Fluss als Rhein, Weser oder Main.

Keine Frage – die Mittelelbe ist schön.

Ein naturnaher Fluss, als der sie oft beschrieben wird, ist die Elbe indes nicht. So, wie man sie heute kennt, hat sie fast nichts mehr mit jener natürlichen Elbe gemein. Sie hat sogar massive Probleme. Und es ist nicht mehr wie noch im vorigen Jahrhundert in erster Linie die Verschmutzung.

Heute setzen dem Fluss und der angrenzenden Landschaft die Folgen der Schiffbarmachung in Kombination mit dem Klimawandel zu.

Der Ausbau

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Elbe ein weitgehend ungezügelter Fluss. Sie mäandrierte, verlagerte immer wieder ihren Lauf. Mitten im Strom entstanden Inseln und verschwanden wieder. Die Eingriffe in den Fluss blieben gering und waren lokal beschränkt.

Das änderte sich mit der Industrialisierung. Immer größere Gütermengen, vor allem Rohstoffe, mussten über größere Entfernungen transportiert werden.

Die Flüsse waren dieser Anforderung aus zwei Gründen nicht gewachsen:

Erstens erhob jedes noch so kleine Fürstentum Zölle – nicht nur für importierte Güter, sondern auch für sogenannte Transitwaren. Der Deutsche Zollverein, 1834 gegründet, dämmte diesen Wildwuchs ein. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 entstand eine innerstaatliche Freihandelszone.

Zweitens war es unmöglich, die Flüsse mit größeren Schiffen zu befahren – enge Flussschleifen oder Untiefen verhinderten dies.

Die Lösung bestand im Flussausbau. Am Rhein hatte man damit bereits 1818 begonnen; bis 1861 war der Flusslauf allein in Bayern und Baden um 40 Kilometer verkürzt worden.

Solche massiven Eingriffe blieben an der Mittelelbe die Ausnahme – die größte Verkürzung ist mit 8,7 Kilometern bis heute die an der Mündung der Schwarzen Elster.

Man setzte stattdessen auf Buhnen. Jeweils paarweise an beiden Ufern angeordnet, erhöhen sie die Fließgeschwindigkeit und verhindern die seitliche Erosion, also das Mäandrieren des Flusses. Durch den verengten Querschnitt erhöht sich die Strömungsgeschwindigkeit, es wird mehr Sediment am Grund abgetragen – die Fahrrinne vertieft sich.

Als ab den 1870er Jahren der Ausbau geplant wurde, gab es neben vielen Befürwortern auch kritische Stimmen. Sie prognostizierten, dass sich der Fluss im Laufe der Zeit immer tiefer eingraben und die angrenzenden Auen allmählich entwässern würde.

Der Boom der Frachtschiffe

Gebaut wurde trotzdem. Wirtschaftlich erwiesen sich die Investitionen zunächst als Erfolg. Die Frachtmengen auf der Elbe nahmen zu. Anrainerstädte profitierten: Häfen wurden ausgebaut, Werften gegründet – wie die der Gebrüder Sachsenberg in Roßlau.

1913 wurde das erfolgreichste Jahr für die Elbe-Frachtschifffahrt. Danach ging es allmählich bergab: der Erste Weltkrieg, schwere Wirtschaftskrisen und die Konkurrenz der Bahn, später des Lkw.

Mit dem Einbruch der industriellen Produktion nach 1990, insbesondere durch den Stopp der Braunkohleförderung im mitteldeutschen Revier, verschlechterte sich die Lage erneut. Die Stilllegung der Tagebaue hatte einen Nebeneffekt: Große Wassermengen, die bisher in Nebenflüsse der Elbe gepumpt wurden, fielen nun weg – der Wasserstand sank.

Die Folge: Der Gütertransport auf der Mittelelbe brach rapide ein. Pläne, dies durch große Maßnahmen wie Staustufen zu kompensieren, wurden nach zähem Ringen verworfen. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis hätte bei 10:1 gelegen – vermutlich wäre es noch ungünstiger gewesen. Für das Wasserstraßenkreuz in Magdeburg prognostizierte man eine Steigerung des Frachtaufkommens um 600 Prozent. Tatsächlich erreichte die Elbe nur fünf Prozent der erwarteten Werte – und damit weniger als vor dem Bau der Trogbrücke. Immerhin fiel das Ergebnis für den Mittellandkanal etwas weniger dramatisch aus.

Weitere Gründe für das Desaster: Der Lkw erwies sich wirtschaftlich oft als unschlagbar. Ab den 2000er Jahren verschärfte der Klimawandel das alte Problem von Niedrigwasserphasen. Diese dauerten nun teils monatelang. Inzwischen wurden in den Häfen, heute „trimodale Logistikzentren“, Güter fast nur noch zwischen Bahn und Lkw umgeschlagen.

Flusskreuzfahrt im Bus

Einen Aufschwung erlebte dagegen die Flusskreuzschifffahrt – dank offener Grenzen. Eine Reederei baute unweit des Junkers-Bootshauses zwei neue Anleger. Ein französischer Anbieter ließ eigens flachere Schiffe mit Heckschaufelrad für die Elbe bauen.

Anders als die Frachtschifffahrt hat die Kreuzfahrtbranche eine Lösung für das Niedrigwasserproblem: Im Kleingedruckten steht, dass umgeplant werden kann. Inzwischen ist es fast normal, dass eine Reise z. B. von Berlin nach Prag mit dem Bus beginnt – eingeschifft wird erst in Wittenberg.

Freizeit am Fluss

Wenig beachtet: Der Ausbau der Elbe hatte Einfluss auf das Freizeitverhalten. Mehr Wohlstand, mehr Freizeit und das Fahrrad machten Ausflugsgaststätten attraktiv.

Die Elbe wurde auch zum Ort für Sport: In den 1920er Jahren entstanden zahlreiche Bootshäuser von Ruder- und Paddelvereinen.

Zuvor hatten sich erste Flussbadeanstalten gebildet. Doch die zunehmende Verschmutzung trübte das Vergnügen. In den 1950er Jahren wurde das Flussbaden verboten.

Als die Elbe in den 1990er Jahren wieder sauberer wurde – dank stillgelegter Industrien und neuer Kläranlagen – war das Flussbaden fast vergessen.

2002 wurde der erste Elbebadetag ausgerufen. In 50 Städten stiegen Menschen in die Fluten – auch in Dessau. Doch inzwischen fehlen die Organisatoren für solche Veranstaltungen.

Hochwasser

Schon früh begannen die Menschen, ihre Siedlungen an der Mittelelbe vor Hochwasser zu schützen – zunächst mit einfachen Ringdeichen, später mit komplexeren Konstruktionen. Die weiten Auen boten dafür den nötigen Abstand.

Trotzdem kam es immer wieder zu schweren Schäden – etwa bei der „Sächsischen Sintflut“ im Februar 1784.

Die Reaktion war stets dieselbe: höhere, stärkere Deiche.

Erst in den 1990er Jahren begann ein Umdenken. Man wollte dem Fluss wieder mehr Raum geben, um Pegelspitzen zu kappen. Das erste Projekt dieser Art war im Roßlauer Oberluch geplant. Es zog sich über Jahre hin – und war 2002, beim ersten „Jahrhunderthochwasser“, noch nicht abgeschlossen.

Die Flut traf unvorbereitete Städte: Es fehlte an Logistik, Know-how und Material. Der Dessauer Stadtteil Waldersee wurde durch die übergetretene Mulde überschwemmt – trotz tausender freiwilliger Helfer.

Aus diesen Erfahrungen lernte man: Strukturen wurden aufgebaut, marode Deiche erneuert, erste Rückverlegungen umgesetzt.

Doch niemand ahnte, dass nur elf Jahre später das nächste „Jahrhunderthochwasser“ folgen würde – und an der Mittelelbe schlimmer als 2002. In Dessau stieg der Pegel auf 7,46 Meter.

Die Deiche hielten diesmal – aber die Hölbinsel am Leopoldshafen wurde komplett überschwemmt. Zum ersten Mal überhaupt stand das historische Bootshaus der Junkers Paddelgemeinschaft unter Wasser.